Das Tal der Trauer ist begehbar.


Augenschein:

Zur Nacht hat ein Sturm alle Bäume entlaubt
Sieh sie an, die knöchernen Besen:
Ein Narr, wer bei diesem Anblick glaubt
Es wäre je Sommer gewesen.
Und ein grösserer Narr, wer träum und sinnt
Es könnt je wieder Sommer werden.
Und grad diese gläubige Narrheit, Kind,
ist die sicherste Wahrheit auf Erden.

Ernst Ginsberg „Abschied“


Wir trauern um……. Eigentlich wäre noch so vieles einander zu sagen gewesen. Dass man sich gemocht hat, trotz Arten und Unarten. Dass jener besondere Augenblick so schön war….

Es bleibt zu danken für alles, was sie/er uns und dem Leben an Wertvollem ein-gebracht hat. Das Kostbare wollen wir bewahren. Die Fehler lassen sich auch ansehen, schliesslich so ansehen, wie sie richtig werden möchten, schön und gut und wahr. Das Tal der Trauer ist begehbar. Durchschreiten ist die Aufgabe, durchschreiten und entdecken, dass am Ende der Trauer ein Lächeln steht. Denn das Leben lebt alle weiter.

Eine kleine Betrachtung:

Leben ist wie eine Fahrt im Zug. Jeder Mensch hat sein Ziel. Möchte der Zug zur rechten Zeit zum Ziel kommen für jeden und jede; ankommen ans ganz persönliche, individuelle Ziel. Das ist die Sehnsucht von jeder und jedem. Lungentransplantation ist eine Zusatzfahrkarte, Fahrtverlängerung, um das erstrebte Ziel zu erreichen. Zugegeben, es ist eine ausserordentlich liebenswürdige, geschenkte Zusatzkarte, ein transplantiertes Organ. Ein anderer Mensch kam früher zu seinem Ziel. Anstatt seine unausgefahrene Lebensfahrkarte wegzuwerfen, hat er sie weitergegeben. Ein kleinwenig ist das immer ein Deal, ein ausserordentliches Geschäft mit dem Leben.

Wenn ein Mensch den Lebenszug verlässt, bedeutet das für die Weiterfahrenden Abschied. Die Menschen weinen beim Abschied. „À Adieu“ sagen , bedeutet, selber auch ein Stück zu sterben. Das Sterben des Verstorbenen, die Einsamkeit der Überlebenden und das eigene einmal Sterbenmüssen treiben Tränen in die Augen. Tränen weinen sich, wenn’s zuviel wird für denen inneren Menschen. So nahe sind sich Körper, Geist und Seele, dass der Körper für die trauernde Seele weint.

Trauer ist die Weiterfahrt mit belastetem und bekümmertem inneren Menschen. Aber der Lebenszug fährt weiter, bringt andere zum Ziel.

Frage, muss das eigentlich wirklich gar so traurig sein, wenn ein Mensch zu seinem Ziel kommt? Wäre nicht viel trauriger, nicht oder nie zu einem Ziel zu gelangen?

Der Zug nach nirgendwo ist höllisch. Der Lebenszug aber bringt die Menschen zum Ziel. Scheinbar ist das Ziel für jeden Menschen anders, für die Frau, den Mann, das Kind, für die Juden, die Moslem, die Christen, die Hindus, die Buddhisten, die Zen, die Konfuzianer, die Atheisten und die Agnostiker und, und, und immer beiderlei Geschlechts.

Manchmal aber denke ich, das grosse Geheimnis wird von den Menschen so verschieden umschrieben, wie die Landschaften von jedem und jeder eben anders „erfahren“ werden. Die Landschaft an sich , das durchfahrene Leben ist vielleicht immer ein Durchfahren des Göttlichen. Die Menschen reden nur so verschieden davon, weil jede und jeder meint, ein persönliches , individuelles Ziel zu haben.

Das Individuelle ist die eigene Zielfindung und schliesslich die persönliche, end-gültige Haltestelle. Sterben ist wohl das Individuellste. Und jede und jeder, die aussteigt aus dem Lebenszug ist überrascht, – – – in Gott auszusteigen. Das ist sehr tröstlich.

Untröstlich wäre nur das Kreisen im Lebenszug, Kreisen ohne Ziel und Ende.

Zum Ziel kommen ist letztlich so schön und gut wie Zugvögel das unbekannte Land des Frühlings finden. Sie brechen dazu auf nach einem inneren Fahrplan und kommen zum Ziel.

Ev. -ref. Pfarrer
Alexander Wunderli

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