Muss ich mir vorwerfen, dass ich lebe?

Sind wir herzlos? Dramatischer Rückgang bei Organspenden. Ein betroffener BLICK-Journalist sucht nach Gründen.

Als ich am Morgen des 28. Oktobers 2013 nach dunklen Träumen erwachte, dachte ich: Jetzt bist du tot. Ich schaute in zwei schöne, blaue Augen. Sogar an den Geruch der Frau erinnere ich mich. «Sie haben diese Nacht eine neue Lunge erhalten», sagte die Krankenschwester auf der Intensivstation. Irgendwann habe ich es geschafft, die vielen Schläuche anzufassen, die mir aus Hals, Brust und Armen hingen. Mir wurde klar: Oh, ich lebe!

Alles musste ich neu lernen: atmen, reden, schlucken, gehen. 20 Liter Wasser hatten meinen Körper nach der achtstündigen Operation aufgeschwemmt. Die ersten drei Schritte vom Bett zum Lehnstuhl waren die Hölle. Und heute? Im Oktober bin ich zum Morteratsch-Gletscher hochgewandert. Für mich war es der Mount Everest.

«Es gibt kein Recht auf Organspende», sagt die Theologin und Ethikern Ruth Baumann-Hölzle, die die Organspende regelmässig hinterfragt. Das heisst: Ich muss mir Vorwürfe machen, dass ich lebe. Aber ich bin da. Okay, ich muss jeden Tag 50 Pillen schlucken, und ich weiss: Nach fünf Jahren lebt weltweit noch etwas mehr als die Hälfte der Lungentransplantierten. Ich habe jetzt drei. Hoffentlich kommen noch ein paar Jährchen dazu.

Nur zwölf bis 13 Spender pro Million Einwohner

Die Situation ist dramatisch: «Die Zahl der Organspenden ist 2016 massiv eingebrochen», sagt Franz Immer, Chef von Swisstransplant besorgt. 143 Spenden gab es 2015 – 2016 waren es über 20 Prozent weniger. Von zehn Familien lehnen es sechs ab, die Organe eines Angehörigen freizugeben. Auf der anderen Seite werden die Wartelisten immer länger. «Im Herbst 2016 hofften 1498 Patienten auf ein Organ», berichtet Immer. «Das ist der schnellste Anstieg seit Einführung des Transplantationsgesetzes im Jahr 2007.»

Die Franzosen machen es anders: In unserem Nachbarland braucht man seit Anfang Jahr einen Ausweis, wenn man nicht will, dass einem im Todesfall Organe entnommen und gespendet werden. Es gibt also 66 Millionen potenzielle Spender. Zum Vergleich: In der Schweiz kamen 2016 nicht einmal 13 Spender auf eine Million Einwohner. 2015 waren es noch 17 auf eine Million.

Die Frage ist heikel: Darf man Menschen zur Organspende zwingen? Als Betroffener meine ich: Nein – aber man kann sie dazu zwingen, sich Gedanken zu machen, ob sie Spender sein wollen oder nicht. Das hätte die Widerspruchslösung, die auch Österreich kennt, möglich gemacht. Aber diese hat das Parlament 2015 abgelehnt. Der Mensch dürfe nicht als Ersatzteillager dienen, hiess es unter anderem.

«Selber schuld!» – stimmt meistens nicht

Warum ist die Stimmung so schlecht, auch bei vielen Politikern? Unsere Gesellschaft zeigt eine Tendenz zu weniger Hilfsbereitschaft. Im Zug der Digitalisierung, der Selbstdarstellung auf Social Media, denken viele Menschen immer mehr nur noch an sich. Ausser an den eigenen Tod allerdings. Verschwörungstheorien breiten sich aus. «Bin ich wirklich tot, wenn mir die Organe entnommen werden?», fragen sich viele. Kritikerinnen wie Ruth Baumann-Hölzle sagen: «Die Todesgrenze ist Gegenstand von Diskussionen. Die ganze Diagnostik vom Hirntod ist umstritten. Für die Organspende müssen die Körperfunktionen noch aufrechterhalten werden.»

Noch schlimmer: Immer mehr Leute massen sich in Internet-Foren und salopp hingeschriebenen Kommentaren an, über Menschen auf der Warteliste zu urteilen: «Warum soll ich einem ein Organ spenden, der ungesund gelebt hat?», heisst es zum Beispiel. Bedeutet: Wer ein Organ braucht, sei selber schuld. Stimmt aber nur selten. Wer wie ich mit der Erbkrankheit Cystische Fibrose zur Welt gekommen ist, braucht eine neue Lunge, obwohl er nie geraucht hat. Und noch eine Forderung gibt es: Nur wer selber Organspender ist, soll Anrecht haben auf ein fremdes Körperteil. Aber auch das funktioniert kaum. Meistens sind Empfänger zu krank, um selber Organe schenken zu können.

Die Fronten sind verhärtet. Wie kann man die Menschen dazu bewegen, einen Organspende-Ausweis auszufüllen? Der Bund und Swisstransplant haben stolze sechs Millionen Franken für eine vierjährige Kampagne ausgegeben. Das Motto: «Leben ist teilen.» Mit Witz und Provokation sollen die Leute abgeholt werden – nicht mit Betroffenheit. Kernstück ist ein Werbespot, in dem ein Paar auf einem Bürotisch kopuliert. «Ich hätte gern eine Lohnerhöhung», stöhnt der Mann zur Chefin. Man müsse über die wichtigen Dinge im Leben reden, lautet die Botschaft der absurden Fernsehwerbung. Der Spot, in dem ein sexueller Akt mit dem schwierigen Entscheid gleichgesetzt wird, die Organe eines Verstorbenen freizugeben, ging in die Hose. Schlüpfrige Provokation bringt bei diesem ernsten Thema nichts.

Zu sensibles Thema für Sauglattismus

Man muss sich fragen: Bringt diese teure Kampagne überhaupt etwas, wenn der Entscheid hauptsächlich im Spital fällt, ob Organe freigegeben werden? Wäre es nicht sinnvoller, in die Ausbildung des Fachpersonals zu investieren? Und es braucht noch mehr Betroffene, die für die Organspende werben. Ein positives Beispiel ist der Kabarettist und SRF-3-Moderator Stefan Büsser. Er hat die gleiche Krankheit wie ich. In seinen Programmen macht er eifrig Werbung für die Organspende.

Auf der Abteilung HOER C im Zürcher Unispital sitzen wir Lungentransplantierten bei den regelmässigen Kontrollen im Wartezimmer. Wir tragen Mundschutz, um uns nicht anzustecken. Ich sehe in den verhüllten Gesichtern grosse Augen mit viel Lebenshunger.

«Organentnahme ist ein Eingriff in die Integrität, in die Persönlichkeit, in die Würde eines Menschen», sagte der Freiburger CVP-Ständerat Urs Schwaller in der Debatte über die automatische Organspende.

Ich lade ihn gern mal zu uns auf die Station zu einem Kaffee ein. Ich würde sogar den Mundschutz ausziehen, wenn er mir zuhört.

[@uelle: Peter Padrutt / Beitrag im Blick 08.01.2017]
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