Zuviel Luft ist auch nicht gut

„Ich will nicht schon wieder so anfangen wie beim letzten Mal, aber Du hast ein Problem mit Deinen Titeln. Warum machst Du immer solche Aufreisser daraus, so als wärst Du bei RTL?“ Also manchmal ist sie auch ganz lieb und meckert nicht immer gleich los, aber bei dieser Serie da macht sie sich förmlich zum Sprecher der Zielgruppe. Als ob sie die besser kennen könnte als ich.

Alle Transplantationszentren stehen in einem regen Erfahrungsaustausch miteinander. Es werden alle Transplantationen (fast alle) in einem (zwei) Register erfasst und diese Registerzahlen bieten einen guten Überblick über das, was in der Welt so üblich ist. So weiss man ziemlich genau, was die anderen Zentren so in der letzten Zeit geschafft haben, was sie denken weiss man natürlich nicht, denn man bekommt ja immer die Vergangenheit in Zahlen. Jetzt (im März 1994) haben wir vorliegen, was bis einschliesslich 1993 an Transplantationen durchgeführt wurde, bald kommen allerdings schon die Zahlen für 1994.

„Dann solltest Du doch besser noch ein bisschen mit deinem Artikel warten. Aber wozu redest Du überhaupt so lange über dieses Register?“

Aus den Registerzahlen wird deutlich, dass das Emphysem der Spitzenreiter unter den Lungenerkrankungen darstellt, die zur Lungentransplantation führen.

„Ich sag ja, Du gehst immer auf Umwegen an die Sache heran!“ Da hat sie Recht. Aber ich finde es langweilig, wie im Lehrbuch zu schreiben: Das Emphysem… „Nein warum denn?“ Also gut, ich versuch’s.

Das Emphysem ist eine Lungenerkrankung bei der Lungengewebe letztlich durch Luft ersetzt wird. Die Ursachen, die zum Endprodukt „Lungenemphysem“ führen können, sind recht unterschiedlich und benötigen auch unterschiedlich lange, bis schliesslich die Lunge so weitgehend zerstört ist, dass sie ihren eigentlichen Aufgaben der Sauerstoffversorgung des Körpers und der Abatmung von Kohlendioxyd nicht mehr gerecht werden kann. Auch beim Lungenemphysem gibt es ein genetisch bedingtes Krankheitsbild, was seltener als die anderen Emphysemursachen ist, aber besonders früh zum Lungenversagen führt. Dieses erbliche Krankheitsbild wird als Emphysem bei Alpha-1-Antitrypsin-Mangel bezeichnet und liegt bei etwa 90 % der Patienten vor. Alpha-1-Antitrypsin-Mangel Bei diesem Krankheitsbild wird durch einen Chromosomenfehler bei der Produktion eines wichtigen Eiweissstoffes, nämlich des Alpha-1-Antitrypsins, in der Leber ein falsches Eiweiss hergestellt. Dieses Alpha-1-Antitrypsin bewirkt eine Hemmung von Eiweiss-abbauenden Enzymen.

„Meinst Du wirklich, dass Du jetzt nicht ein bisschen zu sehr das Lehrbuch hervorkehrst? Bleib doch bitte verständlich. Wenn Du es so erklärst, versteht es niemand, weil es niemand liest, weil es niemand versteht, weil es niemand … Du könntest doch einfach erklären, dass unsere Lunge nie ein fertiges Organ ist, sondern wie alle anderen Gewebe auch, ständig umgebaut, repariert und erneuert wird. Dieser Umbau funktioniert nicht wie bei einem Korallenstock durch ständigen Anbau, sondern durch ein Gleichgewicht zwischen Abbau und Neubau. Schon normalerweise ist die Bilanz im Alter negativ, d.h. es wird im Alter mehr abgebaut als aufgebaut, so dass im Alter ein bisschen Lungengewebe fehlt. Da der Brustkorb aber nun einmal eine bestimmte Grösse hat, wird das fehlende Lungengewebe durch Luft ersetzt. Für den Abbau sind Enzyme zuständig, für den Neubau die Zellen der Lunge. Das Gleichgewicht zwischen Abbau und Neubau bestimmen die Aktivität oder die Menge der Enzyme, die Aufbaugeschwindigkeit können wir erst einmal unberücksichtigt lassen. Die Enzyme, die das Lungengerüst verdauen, das im wesentlichen aus einem elastischen Fasergerüst besteht, können glücklicherweise nicht so einfach drauflos verdauen. Ihre Aktivität wird in Schach gehalten von Hemmstoffen, mit denen sich die Lunge vor einer allzu starken Abbaurate schützt. Das Gleichgewicht gerät durcheinander, wenn entweder zu viele Enzyme in die Lunge gelangen oder wenn die Hemmstoffe fehlen.“ Also entweder ich mach jetzt mal weiter oder ich muss oben schreiben “von TOF’s kleiner Freundin“ und in der Fussnote werde ich dann mehr oder weniger dankend erwähnt. Aber es stimmt. Sonst hätte ich auch schon protestiert.

Der Alpha-1-Antitrypsin-Mangel ist nun genau eine solche Situation, wo das Gleichgewicht dadurch gestört wird, dass der wichtigste Hemmstoff der Enzyme, welche elastische Fasern verdauen (sog. Elastase), fehlt oder falsch produziert wird. Je weniger von dem Hemmstoff in der Leber gebildet wird, desto mehr können Elastasen die elastischen Fasern des Lungengerüstes zerstören. Ganz besonders verheerend wird dieser Mangel sich natürlich auswirken, wenn gleichzeitig auch noch eine überdurchschnittliche Menge an Elastase in der Lunge ist. Elastase ist genau das Enzym, das bei Alpha-1-Antitrypsin-Mangel schon bei normaler Konzentration nicht ausreichend geblockt werden kann. Elastase entstammt Entzündungszellen, ist also immer dann vermehrt, wenn eine Entzündung, z.B. durch einen Virusinfekt, eine bakterielle Bronchitis oder etwas ähnliches, sich in der Lunge oder den Atemwegen abspielt.

„Du ziehst es aber wirklich künstlich in die Länge. Nun sag doch schon, dass es gar nicht nötig ist, erst einen Infekt zu bekommen, bevor eine Entzündungsreaktion in den Atemwegen abläuft. Du wartest doch nur darauf, Dein Schwert gegen das Rauchen zu schwingen.“ Seltsam, sonst spricht sie in einer möglichst coolen, schnörkellosen Sprache, und jetzt, da soll ich mein Schwert schwingen wollen. Na klar weiss sie, dass ich kein gutes Haar am Rauchen lasse. Tausend Gründe sprechen dagegen, keiner dafür. Wie viel schreckliche Krankheiten und Quälerei sind durch diese dämliche Qualmerei schon entstanden. Als hätten wir nicht schon ohne das Rauchen genug Krankheiten und Probleme. Aber ich schwinge doch nicht das Schwert. Nicht Gewalt, nein Argumente. Rauchen kann man lassen, Atmen nicht!

Das mit dem Rauchen gehört hier tatsächlich hin. Patienten mit diesem Erbfehler erkranken viel früher an einem Emphysem, wenn sie rauchen, als wenn sie ganz darauf verzichten. Das kommt daher, dass die Dreckstoffe aus dem Zigarettenqualm jede auch noch so gesunde Lunge belasten und reizen. Liegt kein genetischer Alpha-1-Antitrypsin-Mangel vor, kann die Lunge sich lange wehren und halbwegs gesund halten. Zwar geht das Rauchen nicht auf Dauer spurlos an der Lunge vorbei, aber bis zum Auftreten eines Emphysems vergehen meist mehr als 20 oder 30 Jahre. Die Dreckstoffe (Kondensat und Teer) erzeugen eine Reizreaktion, Fresszellen wollen den Dreck beseitigen, schaffen jedoch nicht alles beiseite, diesen folgen Entzündungszellen, die u.a. jede Menge Elastase ausschütten. Wenn nun ein Mangel an Alpha-1-Antitrypsin herrscht, kann man sich leicht die abbauende Kraft einer solchen Entzündungreaktion vorstellen. Die Folge ist ein Emphysem und zwar je zahlreicher die Entzündungen, je höher der Zigarettenkonsum und je weniger Alpha-1-Antitrypsin vorhanden ist, desto schneller tritt dieses auf.

„Das hat jetzt auch der Langsamste begriffen. Hoffentlich hast Du nicht so lange erklärt, dass sich die meisten schon abgewendet haben. Bist Du müde?“ Allein die Frage. Kann schon sein, deshalb kann ich immer noch erklären, wie ein Emphysem entsteht. Aber so ist sie. Nervt, meckert und dann ganz plötzlich ist sie fürsorglich um mich bemüht, fragt „arbeitest Du auch nicht zu viel?“ – meint natürlich für mein Alter. Keine Frage von ihr ist ohne Hintergedanke, keine ist nur einfach harmlos nett gemeint. „Und vielleicht solltest Du lieber mal erklären, was der Patient davon merkt von dem Emphysem.“

Luftnot – ja Luftnot, Luftknappheit, einfach zu wenig Luft; erst bei Anstrengung, dann schon bei Kleinigkeiten, beim Anziehen, schliesslich in Ruhe – überhaupt nicht mehr genug Luft zum Leben haben. Nicht typischerweise Anfälle von Erstickungsangst, aber immer zu wenig Luft. Das Atmen fällt schwer, der Brustkorb ist wie aufgepumpt und trotzdem haben die Patienten nicht genug Luft. Husten und Auswurf können, müssen aber nicht sein. Luftnot und angestrengtes Atmen, wir sagen erhöhte Atemarbeit, gehören dazu. Die Patienten haben vieles mit Asthmapatienten gemeinsam, den geblähten Brustkorb, die erschwerte Atmung und doch ist es etwas anderes, weil die Störung praktisch nicht durch Medikamente zu beeinflussen ist und zudem zwischen den Anfällen schlimmster Luftnot keine deutliche Besserung eintritt, sondern immer schlimme Luftnot herrscht.

“Du brauchst gar nicht darüber nachzudenken, ob Du jetzt erklären sollst, warum die Lunge sich so aufpumpt, warum die Luft so schlecht durch die Atemwege fliesst. Ist doch ganz klar, dass Du das machen sollst und willst. Sonst hättest Du ja nicht Deinen reisserischen Titel nehmen können. Versteht doch sonst keiner. Und Du hast ja auch immer diesen unnötigen Perfektionismus-Wahn: selbst Deine werten Spezialisten-Kollegen sollen damit zufrieden sein. Alles muss richtig und wollständig sein. Also los bringen wir ‘s hinter uns.“

Eigentlich könnten wir es auch dabei belassen: Lungengewebe wird durch Luft ersetzt, es ist als weniger funktionierendes Lungengewebe für den Gasaustausch vorhanden. Aber das ist nur der Anfang. Die elastischen Fasern dienen nämlich dazu die Lunge zu entleeren. Während wir das Zwerchfell benutzen, um einzuatmen, lassen wir die Luft einfach ausströmen, wie aus einem Luftballon, der sich zusammenzieht, wenn die Luft entweicht. Dazu braucht die Lunge aber die elastischen Fasern, ohne diese zieht sie sich nicht ausreichend zusammen, am Ende einer Ausatmung ist einfach ein viel zu grosser Rest in der Lunge zurückgeblieben. Die Lunge pumpt sich immer weiter auf, der Brustkorb wird immer grösser. Wenn die Luft nicht von selbst entweichen will, weil die elastischen Fasern fehlen, kann man sie da nicht ausquetschen? Das tun die Patienten auch. Sie nehmen ihre Atemhilfsmuskulatur und drücken damit den Brustkorb zusammen und mit der Bauchmuskulatur drücken sie das Zwerchfell nach oben. Aber leider fehlen wieder die elastischen Fasern. Weil die Bronchien, insbesondere die kleinen, die nicht von Knorpelringen stabilisiert werden, nicht mehr von elastischen Fasern aufgespannt werden, nicht mehr offengehalten werden, klappen sie zusammen. Dann geht gar nichts mehr hindurch. Da hilft auch die grösste Anstrengung nichts.

Sie hat lange nichts gesagt. Wahrscheinlich will sie, dass wir es hinter uns bringen. Sie kann schon manchmal rücksichtsvoll sein. Oder sie ist müde. Noch nie habe ich erlebt, dass sie eingeschlafen ist, bevor ich es bin. Im Gegenteil sie ist es, die auf der Autobahn mich wachgehalten hat, als ich einmal fast eingenickt wäre. Vielleicht denkt sie deshalb, dass sie mich nicht aus den Augen lassen darf.
Natürlich lässt man Patienten nicht ohne Behandlung.
„Du hast noch gar nichts über die andere Gruppe von Emphysempatienten, ich meine die ohne diesen genetischen Defekt, gesagt. Du hast angekündigt, das kommt auch noch.“ Da hat sie recht. Doch nicht müde, meine kleine Freundin.

Also noch einmal kurz zurück zur Entstehung des Emphysems. Eigentlich hatten wir das doch schon. Die Patienten mit Alpha-1-Antitrypsin-Mangel sind im Schnitt erst 30 bis 40 Jahre alt, wenn sie unter so extremer Luftnot leiden, dass sie dauernd zusätzlichen Sauerstoff benötigen. Die anderen Emphysempatienten, die keinen Erbmangel haben, bekommen in aller Regel das Emphysem erst in höherem Alter: entweder, weil sie viel und lange geraucht haben (Aufhören lohnt sich immer, es ist nie zu spät), oder weil andere Entzündungsprozesse zu einer so dramatischen Zerstörung von elastischen Fasern und Lungengewebe geführt haben, dass das Ergebnis das gleiche ist. Auch wenn man einen einmal eingetretenen Schaden an der Lunge nicht rückgängig machen kann, versucht man doch mit Therapie zu helfen. Cortison kann den Entzündungsprozess unterdrücken, das Fortschreiten der Zerstörung aber nicht aufhalten. Infekte, die in dieser vorgeschädigten Lunge leichter Boden finden, werden grosszügiger als sonst üblich mit Antibiotika behandelt. Das Rauchen muss natürlich spätestens jetzt eingestellt werden. Mit Atemgymnastik und speziellen Inhalationstechniken kann die behinderte Entleerung des Bronchialsekrets gefördert werden. Sauerstoff kann zusätzlich zugeführt werden und etwas von der Luftnot nehmen. Beim Alpha-1-Antitrypsin-Mangel kann man das Alpha-1-Antitrypsin als Medikament dem Patienten verabreichen. Man hofft, damit den raschen Verlauf der Erkrankung zu bremsen. Obwohl das so logisch klingt, ist der eindeutige Beweis, dass es auch so funktioniert, wie wir uns das vorstellen, noch nicht erbracht. Wenn alle diese Massnahmen ausgeschöpft sind und der Patient trotzdem mit der Luftnot nicht zurecht kommt, bleibt als einzige Alternative die Transplantation.
„Willst Du nichts erzählen von den neuen Operationsverfahren beim Emphysem?“ Weiss ich ehrlich nicht so genau. Wir haben jetzt zwar auch ein bisschen Erfahrung damit gesammelt, und diese ersten Patienten waren echt ganz zufrieden. Aber die Methode der „Operativen Volumenreduktion beim Emphysem“ ist noch so neu (2) , dass wir noch gar nicht wissen, für wen dieses Verfahren in Frage kommt und für wen nicht. Da es für einige Patienten aber eine Alternative – zumindest eine vorübergehende Alternative – zur Transplantation darstellt, müsste es in einem Artikel über das Emphysem schon kurz erwähnt werden.

Diese aus den USA stammende Operation, die dort 1994 erstmals vorgestellt wurde , wird inzwischen auch in Europa angewendet. Es wird etwa ein Drittel des übermässig luftgefüllten Lungengewebes wegoperiert, wodurch der Brustkorb nicht mehr so schrecklich überbläht ist und die Atemwege bei der Ausatmung nicht mehr so schnell zusammenfallen. Zur Zeit kommen nur Patienten in Betracht, die keine wesentliche Infektion in den Atemwegen haben. Für einige Patienten, die für eine Transplantation wegen ihres Alters nicht in Frage kommen, stellt dieses Verfahren möglicherweise eine sinnvolle Alternative dar. Kommt eine solche Operation nicht in betracht, muss eine Transplantation erwogen werden, die beim Emphysem entweder als Einzellungen- oder als Doppellungentransplantation durchgeführt werden kann. In dem internationalen Register werden auch Berechnungen angestellt, welche Konstellation besonders günstige und welche besonders ungünstige Transplantationsergebnisse zur Folge haben. Einige Faktoren, die für alle Krankheiten gelten, lassen ein schlechteres als durchschnittliches Ergebnis erwarten, wie z.B. eine Transplantation direkt im Anschluss an eine Beatmungstherapie oder Intensivstationsbehandlung. Der einzige besonders gute Ergebnisse versprechende Faktor war die Transplantation wegen eines Emphysems. Das macht auch verständlich, warum das Emphysem die grösste Lungentransplantationsgruppe überhaupt darstellt.
„Jetzt versteh ich, warum Du am Anfang so ausführlich über das Register geredet hast.“ Da ist er wieder der vertraute, etwas spitze Ton, den ich so liebe. Ihren Namen verrate ich doch nicht. Wir stürzen uns jetzt erst einmal ins Privatleben.

Fussnoten:
(1) Unter „Mithilfe“ von TOF’s kleiner Freundin
(2) Seit Januar 1995 wurden in Hannover 20 Patienten mit dieser Methode behandelt. Weltweit gibt es Erfahrungen mit etwa 300 Patienten.
von Prof.Dr.Thomas O.F.Wagner (1), Hannover

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